Stuttgart 21/Stresstest/Richtlinienverstöße

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→ Dies ist die Detaildarstellung des entsprechenden Abschnitts im Hauptartikel Stuttgart 21/Stresstest (wichtige Quellen dort unter Dokumente).

Im Schlichterspruch zum Stresstest war die Anwendung "anerkannter Standards des Bahnverkehrs" gefordert worden. Eine solche weiter gefasste Prüfung der Prämissen des Stresstests auch im Vergleich zu internationalen Standards fand nicht statt. Es wiegt deshalb besonders schwer, dass sich in den Details der Durchführung des Stresstests zu Stuttgart 21 sogar eine Reihe von Verstößen gegen Bahn-interne Richtlinien finden.

Besondere Bedeutung kommt dabei der Richtlinie 405 "Fahrwegkapazität" zu. Selbst diese Richtlinie ist argumentativ nicht geschlossen, da sie an vielen Stellen auf die Unter-Richtlinie 405.0105 "Theoretische Grundlagen" verweist, die noch nicht vorliegt.

Abschlussdokumentation unvollständig

Die Abschlussdokumentation des Stresstests entspricht nicht den Anforderungen (Richtlinie 405.0205 S. 1 / Bl. 227):

"Alle Ergebnisse sind so aufzubereiten, dass die sich ergebenden Schlussfolgerungen nachvollziehbar sind."

Tatsächlich wurden die entscheidenden Eingangsgrößen, die Prämissen, zum größten Teil überhaupt nicht dokumentiert, seitenweise Zuglisten sind ohne Angabe der technischen Daten zu den Zügen ohne Aussage, etc. Selbst die SMA attestiert: Der Bericht "Stresstest Stuttgart 21 – Fahrplanrobustheitsprüfung" der DB Netz AG vom 30. Juni ist nicht selbsterklärend, weist teilweise inhaltliche Mängel auf und bietet keine vollständige Dokumentation der durchgeführten Arbeiten" (Audit SI-07 S. 10 / Bl. 184). Es ist nicht nachvollziehbar, wie die SMA auf der Basis einer solchen Ausgangsdatenlage überhaupt in der Lage war zu testieren.

Bauzuschläge nicht voll für Verspätungsabbau

Die SMA schreibt zu den Bauzuschlägen (Audit FP-05 S. 3 / Bl. 82):

"Unter der Annahme, dass die Bauzuschläge in den Fahrzeitüberschüssen enthalten sind, in der Simulation aber nicht benötigt werden – Baustellen werden nicht simuliert – ist die Höhe der über alle Züge vorhandenen Reserven eher hoch bemessen."

Dies ist allerdings eine eher beschönigende Darstellung. Denn die Bauzuschläge dürfen nicht wie geschehen voll den Fahrzeitüberschüssen zugerechnet und zum Verspätungsabbau verwendet werden. Die Aussage, dass die Bauzuschläge in der Simulation nicht benötigt werden, ist irreführend. So wie Bauzuschläge in den Fahrplan übernommen werden, um das statistisch auftretende Baugeschehen zur Instandhaltung der Infrastruktur abzubilden, so müssen sie aus demselben Grund der Fahrzeit in der Simulation zugeschlagen werden. Dazu muss nicht das Baugeschehen im Einzelnen simuliert werden. Wenn die SMA von nicht benötigten Bauzuschlägen schreibt, geht sie vollkommen unrealistisch davon aus, dass in Zukunft keine Baumaßnahmen zur Erhaltung der Infrastruktur mehr nötig wären.

Nach dem Regelwerk dürfen allenfalls 50 % der Fahrzeitüberschüsse und Bauzuschläge zum Verspätungsabbau in der Simulation genutzt werden, wenn überhaupt. Die Richtlinie 405 schreibt auch vor, dass bspw. die Nennleistung nur ohne Verwendung der Bauzuschläge zu ermitteln ist (Richtlinie 405.0104 S. 11 / Bl. 99).

Nicht-Berücksichtigung von Urverspätungen

Die Nicht-Berücksichtigung von Urverspätungen in der Stresstest-Simulation, bzw. die ersatzweise aber vollkommen unzureichende Berücksichtigung innerhalb der Haltezeitverlängerungen entspricht einem weiteren Richtlinienverstoß. Sie wird an anderer Stelle ausführlich dargestellt.

Fahrzeitüberschüsse nur teilweise für Verpätungsabbau

Laut Richtlinie 405 dürfen insbesondere bei der Bewertung der Betriebsqualität (wenn es um "wirtschaftlich optimal" oder "Premium" geht) Haltezeitüberschüsse und Fahrzeitüberschüsse nur zum Teil, in der Regel zu 50 % genutzt werden:

"Hierbei wird angenommen, dass entsprechend den Bedingungen in der Praxis ein Teil der in der Regel erforderlichen planmäßigen Wartezeiten und der bei der Fahrplanerstellung üblicherweise eingearbeiteten Zeitzuschläge zum Verspätungsabbau genutzt werden kann." (Richtlinie 405.0104 S. 6 / Bl. 94)
"Simulationsmethoden erlauben die Abbildung von Verspätungsabbau, wobei i.d.R. der Abbau der Hälfte des Bauzuschlags und der im zu Grunde liegenden Fahrplan enthaltenen planmäßigen Wartezeiten im Betrachtungsraum zugelassen wird. Die Nutzung von Fahrzeitzuschlägen zum Abbau von Verspätungen kann toolgebunden unterbunden werden." (Richtlinie 405.0202 S. 11 / Bl. 161)

Die SMA weist bei der Darstellung der Reserven (Audit ff FP-05 S. 1 / Bl. 80) zwar hin: "Die Reserven, die zum Verspätungsabbau genutzt werden können, sind eher hoch."

Fahrzeitüberschüsse dürfen demnach nicht zu 100 % zum Verspätungsabbau verwendet werden. D.h. die Simulation der "Grundversion", die Basis des Stresstest-Ergebnisses, beruht somit auf unzulässigen Parametern.

Haltezeitverkürzung nicht für Verspätungsabbau

Das Regelwerk der Bahn untersagt die Verwendung (: "Für infrastrukturbezogene Aufgabenstellungen ist sie [die Kenngröße Verspätungsveränderung] jedoch nur bedingt geeignet, da ggf. Verspätungsabbau das Leistungsverhalten von Netzelementen überlagern kann. In diesen Fällen sind weitere Kenngrößen (z.B. infrastrukturbezogene Behinderungen bzw. Wartezeiten) heranzuziehen." Dies besagt eindeutig, dass die fahrplanspezifische hohe Haltezeitverkürzung im Hauptbahnhof nicht zur Bewertung der Infrastruktur herangezogen werden darf.

Damit sind die Ergebnisgrafiken in der Abschlussdokumentation der Bahn(Doku. S. 67 Teil 2 / Bl. 6, S. 112 Teil 2 / Bl. 51), die in der Summe über die Zulaufstrecken, die Haltezeitverkürzung im Hauptbahnhof und die Ablaufstrecken eine Premium-Qualität nahelegen, unzulässig. Dies erklärt auch, warum die Bahn im Abschlussbericht keine entsprechende textliche Schlussbeurteilung in ihren Bericht aufnahmen. Dies ist wohl auch der Hintergrund der Äußerung eines Bahnvertreters in der Prämissen-Sitzung vom 19.07.2011, dass die Haltezeitverkürzung im Hauptbahnhof "nicht entscheidungsrelevant" sein könne.[1]

Es erklärt auch, warum die SMA nur einen "wirtschaftlich optimalen" Betrieb testierte. Wahrscheinlich liegt hier auch begründet, warum die SMA auf mehrfache Anforderung in der Stresstest-Präsentation nicht begründete, warum sie nicht "Premium"-Qualität testierte (.... Quelle). Auch die Bahn hielt sich in der Stresstest-Präsentation in dieser Frage auffällig zurück und überließ den Laien-Vertretern der Befürworterseite die Argumentation, dass ja die Haltezeitverkürzung im Hauptbahnhof die Premium-Qualität begründen würde (.... Quelle).

Die Argumentation, mit der Haltezeitverkürzung im Hauptbahnhof eine "Premium"-Betriebsqualität zu begründen, ist wissenschaftlich nicht haltbar und widerspricht den Vorgaben der einschlägigen Richtlinie. Darüber hinaus ist die Haltezeitverkürzung in ihrem Umfang unrealistisch hoch angesetzt.

Stresstest-Simulation auf Basis ungültiger Prozessbeschreibung

Kopf Prozessbeschreibung LN34-07.01.03, DB Netze
Der Stresstest wurde nach einer noch nicht gültigen Prozessbeschreibung durchgeführt und dies wurde dennoch von der SMA testiert.

Die Bahn gab in ihrer Abschlussdokumentation vom 30.06.2011 an, beim Stresstest "gemäß Prozess 'Fahrplanrobustheitsprüfung (FRP) durchführen' (LN34-07-01-03)" verfahren zu haben (Doku Teil 1 S. 2). Diese Prozessbeschreibung ist gültig seit 10.07.2011, d.h. sie konnte für die Durchführung des Stresstests keine Anwendung finden. Diesen Mangel übersieht die SMA und testiert einen Prozess, der auf einer nicht gültigen Verfahrensanweisung basiert. Dies ist überraschend, weil es zum Kern der Auditierung gehören müsste. Es ist die Frage, ob bzw. in welcher Form die noch nicht gültige Prozessbeschreibung der SMA überhaupt vorlag.

Prozessbeschreibung LN34-05-07, gültig ab 10.07.2011, DB Netze. Ausriss zu den Infrastrukturvarianten
Prozessbeschreibung LN34-07-01-03, gültig ab 16.02.2009, DB Netze. Ausriss zu den Infrastrukturvarianten
Für die Durchführung des Stresstests war eine frühere Fassung relevant, die Prozessbeschreibung LN34-05-07, gültig ab 16.02.2009. Es gibt womöglich mehrere Unterschiede zwischen beiden Verfahrensanweisungen. Ein entscheidender Unterschied liegt in dem Folgenden. In der älteren Prozessbeschreibung war die Berücksichtigung unterschiedlicher Infrastrukturvarianten an den Untersuchungsauftrag gebunden. In unserem Fall ist das der Schlichterspruch zum Stresstest, der ausdrücklich ..... D.h. es hätte bspw. auch zwingend der Verkehr bei Bau der großen Wendlinger Kurve simuliert werden müssen. Erst in der neueren Variante ist an dieser Stelle eine Einschränkung auf einen gegebenenfalls enger gefassten Simulationsauftrag möglich.

D.h. gemäß der geltenen Prozessbeschreibung hätten im Stresstest die Varianten mit den Ausbauten Große Wendlinger Kurve, P-Option, etc. geprüft werden müssen, was nicht geschah, so dass der Stresstest die betreffende Vorschrift verletzt. Allein wegen dieses Regelverstoßes müsste der Stresstest noch einmal regelkonform wiederholt werden. Inzwischen – aber eben erst jetzt – wäre dann eine Abweichung vom Untersuchungsauftrag möglich. Allerdings müsste dann die Bahn auch den Simulationsauftrag offenlegen und Abweichungen vom Untersuchungsauftrag begründen. Und dieses Vorgehen müsste dann auch vom Auditor geprüft werden.

Unzureichende Entscheidungsbasis Betriebsqualität

Richtlinie 405 stellt anspruchsvolle Anforderungen an die Entscheidung über die in einer Infrastruktur zu erreichende Betriebsqualität:

  • "Um einen Qualitätsnachweis zu führen, sind die an den Messpunkten (vgl. Abs. (9)) gewonnenen Qualitätskenngrößen mit Qualitätsmaßstäben zu vergleichen, die i.d.R. aufgrund von Erfahrungswerten und zusätzlichen theoretischen Überlegungen gewonnen wurden." (Richtlinie 405.0104 S. 5 / Bl. 93)
  • "Fundierte Entscheidungen sind in der Regel nur auf der Grundlage der komplexen Betrachtung mehrerer Kenngrößen ggf. unter Angabe möglicher Bandbreiten bzw. Wertebereiche zu treffen." (Richtlinie 405.0104 S. 7 / Bl. 95)
  • "Aussagen zur Kapazität der Infrastruktur sollten sich nicht nur auf ein einziges Betriebsprogramm bzw. eine einzige Struktur der Leistungsanforderungen und einen einzigen daraus resultierenden Leistungswert stützen. Vielmehr ist es erforderlich, bei solchen Untersuchungen auf Bandbreiten, die sich z.B. aus unterschiedlichen möglichen Entwicklungen der Leistungsanforderungen ergeben können, hinzuweisen. Dazu ist die Berechnung mehrerer Kenngrößen bzw. gleicher Kenngrößen unter unterschiedlichen Randbedingungen sowie von geeigneten Eckwerten sinnvoll" (Richtlinie 405.0104 S. 10 / Bl. 98)

D.h. die Beschränkung der Qualitätsbetrachtung auf die eine Größe Verspätungsabbau ist nicht richtlinienkonform.

Usw, usf.

Quellenangaben

  1. 19.07.2011, 3. Prämissengespräch im Stuttgarter Rathaus, Protokoll. Thorsten Schaer, DB Netz, sinngemäß zu Chart 67 der Abschlussdokumentation: Die Haltezeitverkürzung von 2,77 auf 2,0 Minuten kann kein Entscheidungskriterium für den Verspätungsabbau sein.
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Bitte diese Punkte noch ergänzen/überprüfen/ausformulieren und mit den Referenzen aus den Richtlinien (zumeist 405) belegen!