Stuttgart 21/Gleisneigung
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Inhaltsverzeichnis
- 1 Ergebnis
- 2 Aktuell
- 3 Inhalt
- 4 Zusammenfassung
- 5 15 Promille Gleisgefälle statt den 2,5 Promille aus der Vorschrift
- 6 Bedeutung für die Fahrgäste
- 7 Bedeutung für den Bahnbetrieb
- 8 Wegrollvorgänge in Köln
- 9 Genehmigung
- 10 Längsneigung in der TSI Infrastruktur der EU
- 11 Chronologie
- 12 Dokumente
- 13 Einzelnachweise
Zusammenfassung
Stuttgart 21 wird als Großbahnhof eine Rekord-Gleisneigung aufweisen. Das Längsgefälle der Bahnsteiggleise liegt mit über 15 ‰ sechsfach über dem Sollwert von 2,5 ‰. In Köln kam es bei einem Viertel des Gefälles wiederholt zu Unfällen mit Personenschäden durch wegrollende Züge. Durch die enge Auslegung des Tiefbahnhofs sind dann auch Kollisionen mit dem laufenden Verkehr möglich. Auf den Bahnsteigen ergibt sich durch eine zusätzliche Querneigung ein fast doppelt so hohes Gesamtgefälle, unbeaufsichtigte Kinderwägen können dann spontan vom Bahnsteig in das Gleis rollen. Für die Baugenehmigung wurde eine "gleiche Sicherheit" ohne Nachweis lediglich behauptet, ihre Erteilung ist auf erheblichen politischen Einfluss zurückzuführen, sie widerspricht anerkannten internationalen Sicherheitsstandards.
15 Promille Gleisgefälle statt den 2,5 Promille aus der Vorschrift
Bei Stuttgart 21 soll der Tiefbahnhof ein Bahnsteiggleisneigung von 15,143 Promille (‰) aufweisen. Nach der EBO soll hingegeben bei Neubauten die Längsneigung 2,5 ‰ nicht überschreiten, d.h. man plant mehr als das sechsfache Gefälle dieser Sollvorschrift. Die 15 ‰ entsprechen laut Bahn in etwa dem Gefälle der Königsstraße in Stuttgart.[12] Die Bahn lässt bis zu 30 ‰ Längsneigung bei Bahnsteigen zu, aber "insbesondere" bei "Haltepunkten an der freien Strecke".[13] Bisher gibt es keinen Bahnhof in Europa mit einer so hohen Längsneigung, bei sehr viel geringeren Werten kam es schon zu zahlreichen Unfällen mit Personenschäden.
Bedeutung für die Fahrgäste
Auf 25 Promille verschärftes Gefälle durch Querneigung
Damit die Trolleys, Rollstühle und Kinderwagen nicht auf die Gleise rollen, ist eine zusätzliche Bahnsteig-Neigung von 10 bis 20 ‰ quer zum Bahnsteig zur Bahnsteigmitte geplant (in Richtung Bahnsteigmitte).[12]
- Gesamt-Gefälle bis 25 ‰: Durch die Addition von Längs- und Quergefälle entsteht somit eine weiter verschärfte Gesamt-Neigung (diagonal) von bis zu 25 ‰, das für die Fußgänger deutlich zu spüren ist. (Ab dieser Steigung gelten Eisenbahnstrecken als Steilstrecke oder Gebirgsbahn.[14] – Aber hier geht es ja um die Fahrgäste.)
- Steigung über Grenzwert für barrierefreies Bauen: Diese Steigung liegt fast beim Doppelten der Königstraße und auch über dem Quergefälle-Grenzwert von 20 ‰ für barrierefreies Bauen in öffentlichen Gebäuden.[15] Die Trolleys und Kinderwägen, die bei 15 ‰ noch nicht losrollten, die schaffen es jetzt.
- Hindernisrennen: Die Bahn will in Bewegung gekommenes Gepäck oder Personen durch Bänke und "Mülltonnen" in dieser Abroll-Rinne stoppen.[12] Dies erscheint als eine verhältnismäßig unelegante Maßnahme für einen so modernen Bahnhof. Diese Einbauten behindern die Personenströme und können auch nicht lückenlos ausgeführt werden, so dass auf erheblicher Länge kein gewaltsames Abstoppen stattfindet. Außerdem ergeben sich erhebliche Komforteinbußen. Das Quergefälle ist auf die Hindernisse gerichtet. D.h. der Reisende, der üblicherweise dem Gefälle folgt, wird auf die Hindernisse gelenkt und muss beim Ausweichen unbequem quer zu einem Gefälle von 25 ‰ laufen.
- Abschussrampe: Rollt etwa ein unbeaufsichtigter Kinderwagen dem Gradient maximaler Neigung folgend los, dann erfährt er auf der "Gegensteigung" sogar noch weitere Beschleunigung, wird also nicht abgebremst. Er stürzt unweigerlich ins Gleis.
Lärm und Komforteinbußen durch rollhemmenden Belag
Ein rollhemmender Belag, eine Art Kopfsteinpflaster, soll das Wegrollen behindern.[16]
- Großrädrige Gefährte: Der rollhemmende Belag versagt bei großrädrigen Gefährten.
- Lärmbelastung: Der rollhemmende Belag führt zu einer erheblichen Lärmbelastung. Die meisten Bahnhöfe haben glatten Asphalt oder polierten Steinboden. Eine Art Kopfsteinpflaster erhöht den Lärm der Trolleys und Gepäckwagen beträchtlich, wie man leicht selbst auf entsprechendem Pflaster nachvollziehen kann. Dieser Lärm vervielfacht von hunderten Reisenden führt zu einer enormen Lärmkulisse, die durch die (im Vergleich zu anderen Bahnhöfen) sehr niedrigen Decken (im Randbereich des Bahnhofs sogar gebündelt) verstärkt wird, wozu der normale Bahnhofslärm (quietschende Bremsen) noch hinzukommt. Die Akustik des Tiefbahnhofs erscheint tatsächlich als ein noch ungeprüftes sehr kritisches Feld des Projektes.
- Kraftaufwand: Es bedeutet eine erhebliche Anstrengung, einen Rollkoffer gegen das Gefälle und den Widerstand des rollhemmenden Belags zu befördern. Wenn der Belag das Gepäck bei 25 ‰ Neigung bremst, dann muss der Bergaufgehende für seinen Trolley etwa gefühlte 50 ‰ überwinden (bei dieser Steigung beginnt die Bahn mit Zahnradantrieb[17]). Das entspricht einem mit 5 % unangenehm steilen Anstieg.
Das Gefälle ist für die Fahrgäste schon im Blick auf die bestehenden Grenzwerte für barrierefreies Bauen bedenklich, ganz abgesehen von der Gefahrensituation im Bahnhof. Der Notbehelf mit einem rollhemmenden Belag versagt bei großrädrigen Gefährten und führt zu erheblichen Komfort-Einbußen. Die Kombination Gefälle, Querneigung und rollhemmender Belag widersprechen den Schutzzielen der EBO.
Bedeutung für den Bahnbetrieb
Keine technische Sicherung gegen Wegrollen
Bis zur Faktenschlichtung war die Bahn offenbar davon ausgegangen, dass der Lokführer (der vielleicht gerade auf der Bahnhofstoilette sitzt oder evtl. bewusstlos ist) im Falle des Losrollens den Fahrtregler in die Rollrichtung stellt, denn sonst bremst das Signal den Zug nicht.[18] Auch war offenbar nicht bekannt, dass der "Totmannknopf" erst im bewegten Zug aktiv und nach 28 Sekunden wirksam wird[19] (dann ist das Unglück schon passiert) und selbst wenn die Feststellbremse betätigt würde, reicht sie nicht für die 15‰.[20].Bisher hat die Bahn tatsächlich noch kein Konzept für rückwärtsrollende Züge, die in den Weichenbereich, also in den laufenden Verkehr, oder auf andere Züge bei "Doppelbelegung" rollen. Bei der Diskussion zu diesem Thema konnten die Vertreter der Bahn grundsätzlich nicht eine einzige konkrete zwangsläufige Sicherungseinrichtung nennen, die einen losgerollten Zug wieder stoppt. Es hieß nur, dass eine "Frage zu beantworten" ist, ob "ausreichend Sicherheitseinrichtungen" vorhanden sind. Die Antwort auf diese Frage wurde nicht gegeben.[21] Eine Frage als Antwort der Bahn auf eine gravierende Sicherheitsfrage? Der Sicherheitsbeauftragte der Bahn, Klaus-Jürgen Bieger, sagte zum Thema:[22]
- "Auch bei geringeren Neigungsverhältnissen, auch bei 1,5 ‰ oder 2,5 ‰ kann der Zug ins Rollen kommen. Aber dann hätten auch alle diese Sicherheitsmechanismen verta... nicht gepasst und dann wäre das nicht gut zum Ein- und Aussteigen. Die Frage ist: Ob dann könnte einzelnen Personen selbstverständlich etwas passieren. Aber das ist egal. Auch bei geringerer Neigung könnte es losrollen."
Hr. Bieger meinte sicher nicht, dass es egal ist, wenn einzelnen Personen etwas passiert. Aber auch er konnte nur auf "alle diese Sicherheitsmechanismen" verweisen, ohne nennen zu können, "wie man dieses Problem technisch wirklich idiotensicher lösen kann", wie es Dr. Geißler gefordert hatte.[23] Solange die Bahn noch nicht weiß, wie sie rollende Züge stoppen will, müssen wir auf die irgendwie abstrakten Kräfte aus den "Schutzzielen" der EBO (siehe unten) hoffen, oder wir vertrauen auf die ebenso abstrakte "Abwägung" beim Eisenbahn-Bundesamt, die uns nach Meinung des Bahnvorstands Dr. Volker Kefer die Sicherheit bringen soll.[24] Im Schlussplädoyer räumte Dr. Kefer ein, dass die Sicherheit im geneigten Bahnhof und in den Tunnels wohl erst in "weiteren Diskussionen" nachgewiesen werden könne.[25] Es erstaunt, dass bevor hier Lösungen vorliegen, der Bau begonnen werden kann.
Auch Schlichter Heiner Geißler war das Gefälle des Bahnhofs nicht geheuer, er sagte dazu:
- Etwas verkürzt: "Es braucht nur ein Kind ums Leben kommen, dann ist ihr ganzer schöner Bahnhof Schall und Rauch." [8] Und: "Man kann das als theoretisches Problem bezeichnen, aber möglicherweise alles, was zum ersten Mal passiert, ist vorher immer als theoretisch unmöglich bezeichnet worden." [26]
Keine Richtlinie für Doppelbelegung bei Gefälle
→ siehe Stuttgart 21/Stresstest/Richtlinienverstöße#Keine Richtlinie für Doppelbelegung bei Neigung
Das Gefälle von 15 ‰ (ab 25 ‰ spricht man von Gebirgsbahnen) bewirkt bei dem Eisenbahnbetrieb deutlich erhöhte (bergab) oder auch erniedrigte (bergauf) Bremswege. Die verlängerten Bremswege sind insbesondere kritisch, wenn es um den Betrieb mit Doppelbelegungen geht. Stuttgart 21 würde mit 13 Doppelbelegungen in der Spitzenstunde den absoluten Rekord in dieser Betriebsart halten. Jeder zweite Zug würde als Doppelbelegung abgefertigt werden. Dennoch existiert keine Richtlinie, die insbesondere die zulässigen Einfahrgeschwindigkeiten bzw. die anzunehmende Bremskurve für den Betrieb regelt.
Aufgrund der Einzigartigkeit dieser Betriebsart (bisher existiert kein Bahnhof in Europa mit einer solchen Neigung) wären überdies technische Sicherungsmaßnahmen vorzusehen, die bei menschlichem Versagen eingreifen. Die Sicherheit kann hier nicht allein dem Erinnerungsvermögen der Lokführer überlassen werden, die teilweise auch aus dem Ausland kommen und mit dieser Sondersituation vollkommen unvertraut sein können.
Dass für diese Fälle vorgebeugt werden muss, zeigen bspw. zahlreiche Vorfälle an dem Haltepunkt Haan zwischen Wuppertal-Vohwinkel und Solingen Hbf. Hier liegt ein Gefälle von "nur" 6,6 ‰ vor, und dennoch kam es in der Vergangenheit immer wieder vor, dass sich der Lokführer verbremste und über den Bahnsteig hinausrutschte. An einem Haltepunkt liegen aber keine Weichen, die in anderen Verkehr einmünden. Schon dies wäre bei Stuttgart 21 eine Gefahr selbst ohne den Betrieb mit Doppelbelegungen. Bei Doppelbelegung aber sind die Anforderungen weit höher. Der Bremsweg am Bahnsteig ist auf die Hälfte verkürzt und es muss ziemlich nah an den stehenden Zug herangefahren werden. Ein Lokführer, der hier erst am Anfang des Bahnsteigs erkennt, dass schon ein Zug in der hinteren Hälfte steht, kann kaum noch bremsen.
Die fehlende Regelung dieses Betriebs durch eine Richtlinie unter Berücksichtigung der verlängerten Bremswege und die fehlende Einrichtung technischer Sicherungen zur zuverlässigen Verhinderung des Auflaufens der Züge scheinen die bestehende Ausnahmegenehmigung in Frage zu stellen. Auch das Problem des möglichen Wegrollens der Züge und damit ein Auffahren bei Doppelbelegung ist in der Ausnahmegenehmigung bisher allein dadurch adressiert, dass der Wille einer Verordnung die Unglücke irgendwie verhindern möge (siehe unten).
Die Argumentation der Bahn, dass dieser Fall für die allgemeinen Regeln im Gefälle abgedeckt sei (.... Quelle), verfängt nicht, da eben bisher jeder Lokführer damit rechnen konnte, in einen ebenen Bahnhof einzufahren.
Es erscheint im Blick auf die Sicherheit des Bahnhofs schlichtweg unmöglich, auch nur die Planung des Neubaus fortzusetzen, solange der international einzigartige Betrieb im geneigten Bahnhof inklusive der Anforderungen im Falle von Doppelbelegungen noch nicht sicherheitstechnisch geregelt ist.
Nr. | Datum Uhrzeit | Gleis | Gefälle | Zugnummer |
---|---|---|---|---|
1 | 18.03.2010 19:25 | 5 | 3,68 ‰ | Thalys 9462 |
2 | 30.09.2010 06:44 | 6 | 3,68 ‰ | LlCE-W 78651 |
3 | 07.11.2010 10:08 | 5 | 3,68 ‰ | ICE 614 |
4 | 11.10.2011 05:04 | 5 | 3,68 ‰ | IC 2314 |
5 | 25.04.2012 05:07 | 4 | 3,68 ‰ | IC 2445 |
6 | 10.06.2012 06:06 | 4 | 3,68 ‰ | IC 2000 |
7 | 15.02.2013 05:05 | 5 | 3,68 ‰ | IC 2214 |
8 | 18.03.2013 05:07 | 4 | 3,68 ‰ | IC 2445 |
9 | 21.03.2013 04:58 | 5 | 3,68 ‰ | IC 2314 |
10 | 26.03.2013 16:50 | 7 | 3,68 ‰ | IC 2915 |
11 | 23.04.2013 06:09 | 4 | 3,68 ‰ | IC 1124 |
12 | 25.04.2013 06:06 | 4 | 3,68 ‰ | IC 1124 |
13 | 13.08.2013 11:55 | 6 | 3,68 ‰ | |
14 | 23.10.2013 06:10 | 4 | 3,68 ‰ | |
15 | 09.11.2013 05:10 | 4 | 3,68 ‰ | |
16 | 22.11.2013 11:00 | 6 | 3,68 ‰ | |
17 | 23.01.2014 06:09 | 4 | 3,68 ‰ | IC 2224 |
18 | 18.06.2014 06:04 | 4 | 3,68 ‰ | IC 2224 |
19 | 14.08.2014 04:47 | 5 | 3,68 ‰ | IC 2314 |
20 | 25.09.2014 05:23 | 4 | 3,68 ‰ | ICE 843 |
21 | 03.11.2014 05:00 | 5 | 3,68 ‰ | IC 2224 |
22 | 18.01.2015 16:31 | 3 | 6,80 ‰ |
Wegrollvorgänge in Köln
Für Stuttgart 21 gibt es keine technische Sicherungen gegen Wegrollen, sondern allein die Dienstanweisung, dass Lokführer die Züge bremsen sollen (siehe unten). Das gilt aber bspw. auch in Köln, wo das Gefälle der Bahnsteiggleise ebenfalls über dem Sollwert von 2,5 ‰ liegt. Hier kam es jedoch zu zahlreichen Wegrollvorgängen (Andersen 2014 S. 17, [3][5]). Die vielen Wegrollvorgänge in Köln fast durchgängig schon bei nur 3,6 ‰ Neigung – mit inzwischen 8 Verletzten[2] – zeigen die erhebliche Gefahr für Leib und Leben.
Bei Stuttgart 21 ist das Gefälle mit 15,143 ‰ rund 4-mal höher als bei den meisten Vorfällen in Köln. Das Risiko ist ebenfalls etwa um diesen Faktor höher. Züge werden in Stuttgar in der selben Zeit rund 4-mal so schnell und rollen 4-mal so weit. Die Schadensintensität dann rund 16-mal so hoch wie in Köln.[27]
Genehmigung
Die sechsfache Bahnsteigneigung wurde vom EBA im Planfeststellungsbeschluss zu PFA 1.1 genehmigt (PFB 1.1 S. 373):- "Die Vorhabenträgerin hat die hierfür notwendigen Vorkehrungen zur Gewährleistung der gleichen Sicherheit in nicht zu beanstandender Weise und nachvollziehbar in ihren Antragsunterlagen dargestellt."
- "Eisenbahnspezifische Bestimmungen stehen der beantragten Längsneigung von 15,143 ‰ im neuen Stuttgarter Durchgangsbahnhof nicht entgegen. Die Vorhabenträgerin hat die hierfür notwendigen Vorkehrungen zur Gewährleistung der gleichen Sicherheit in nicht zu beanstandender Weise und nachvollziehbar in ihren Antragsunterlagen dargestellt. Dies sind zum einen größere Querneigungen der Bahnsteige zur Bahnsteigmitte, rollhemmende Beläge, selbstbremsende Gepäckkarren, sowie Hinweisschilder oder sonstige optische Hinweise auf erhöhte Längsneigung und eventuell erschwerte Benutzung der Fahrzeuge (Ein- und Ausstieg). Zudem lässt sowohl die Eisenbahn- Bau und Betriebsordnung als auch die Konzern-Richtlinie 813 »Personenverkehrsanlagen« für die Bahnsteige selbst Querneigungen von bis zu 20 ‰ zu. Die gewählte technische Ausführung der Bahnsteige mit einer zur Bahnsteigmitte fallenden Querneigung von 10 ‰ (vgl. Erläuterungsbericht Teil III, Kapitel 2.5.1) gewährleist eine sichere Benutzung auch für Kinderwagen, Rollenkoffer und Ähnliches. Eine Gefährdung ist somit auszuschließen. Zum anderen wird hinsichtlich des Wegrollens der Züge auf die Schutzziele der einschlägigen EBO verwiesen, die vor allem ein selbständiges in Bewegung setzen von abgestellten Eisenbahnfahrzeugen (Wagen und Züge) zuverlässig verhindern wolle. Diese Funktionen werden in den jeweiligen Wartungs bahnhöfen erfüllt. Im neuen Stuttgarter Hauptbahnhof sieht das Betriebsprogramm nur ein Halten zum Aus- und Einsteigen der Reisenden vor, wobei bei diesen Halten die Zuggarnituren immer gebremst werden. Auch werden in der Regel bei durchgehenden Zügen keine Bremsproben erforderlich, so dass auch der Einwand der nicht mehr durchführbaren Bremsproben ins Leere geht.
Diese Vorkehrungen zur Gewährleistung gleicher Sicherheit finden sich in den Antragsunterlagen Band III ab Seite 85 (Hervorhebungen WikiReal):
- "3. Vorkehrungen zur Gefahrenabwehr auf den Gleisen und Bahnsteigen des neuen Hauptbahnhofes
- Bahnbetrieb
- Der Sicherheitsgedanke, der dem § 7 (2) EBO zugrunde liegt, geht davon aus, dass ein selbständiges in Bewegung setzen von abgestellten Eisenbahnfahrzeugen (Wagen und Züge) zuverlässig verhindert werden muß. Im neuen Stuttgarter Hauptbahnhof braucht dies nicht berücksichtigt werden, da hier weder neue Züge gebildet, noch Züge abgestellt werden. Diese Funktionen werden in den jeweiligen Wartungsbahnhöfen erfüllt. Im neuen Stuttgarter Hauptbahnhof sieht das Betriebsprogramm nur ein Halten zum Ein- und Aussteigen der Reisenden vor, wobei bei diesen Halten die Zuggarnituren immer gebremst werden.
- Die Betriebsabwickiung entspricht daher, wenn auch im größeren Umfang, der Abwicklung des S-Bahn-Betriebes in der S-Bahn-Station Feuersee, deren Gieise ein Längsneigung von 20 ‰ haben."
Auch in der Faktenschlichtung von 2010 wurde eine "gleiche Sicherheit" nicht nachvollziehbar dargestellt.[28] Vielmehr wurde eingestanden, dass man darauf angewiesen ist, dass die Lokführer den Zug bremsen (was sie aber immer mal wieder, z.B. auch in Köln s.u., vergessen). Wie die Sicherheit gewährleistet sein soll, bleibt unklar.
- "Zum anderen wird hinsichtlich des Wegrollens der Züge auf die Schutzziele der einschlägigen EBO verwiesen, die vor allem ein selbstständiges in Bewegung setzen von abgestellten Eisenbahnfahrzeugen (Wagen und Züge) zuverlässig verhindern wolle."
Die bloßen "Schutzziele der EBO" erscheinen als eine recht unkonkrete und in der Praxis nicht belastbare Vorgabe zur "zuverlässigen Verhinderung" von Unfällen. Zum Vergleich: Übertragen auf den Autoverkehr könnte der Hersteller eines Autos für die Typen-Zulassung argumentieren: Nach §1 StVO darf der Fahrer auch dieses Wagens niemand anderen gefährden, daher gehen wir davon aus, dass das Fahrzeug sicher ist.
- "Im neuen Stuttgarter Hauptbahnhof sieht das Betriebsprogramm nur ein Halten zum Aus- und Einsteigen der Reisenden vor, wobei bei diesen Halten die Zuggarnituren immer gebremst werden. Auch werden in der Regel bei durchgehenden Zügen keine Bremsproben erforderlich."
Damit ist ein 'Kopfmachen' (fahrplanmäßig oder bei Störungen in den Tunnels) oder ein Lokwechsel (bei Defekt) in praxi ausgeschlossen.
Kein Haltepunkt
Stuttgart 21 ist kein Haltepunkt, es schließen sich Weichen direkt an die Bahnsteige an, die Gefahrensituation ist die eines Bahnhofs.
Keine Zwangslage
Dass bei Stuttgart 21 keine Zwangslage die Gleisneigung erzwingt, sondern nur die Kosten gespart werden sollten, stellte die seinerzeitige Landesverkehrsministerin Tanja Gönner am 18.11.2010 in einem Interview klar:[9]
- "Ein weiteres Thema ist das Gefälle auf dem Bahnsteig, das per se zwar kein Problem darstellt, das man aber ändern kann. Das würde allerdings ziemlich viel Geld in Anspruch nehmen."
Längsneigung in der TSI Infrastruktur der EU
Per Entscheidung der Europäischen Kommission vom 26.04.2011, veröffentlicht am 14.05.2011, wurde die "TSI Infrastruktur"[29] erlassen (TSI - Technische Spezifikation für die Interoperabilität), die im Unterschied zu früheren Entwürfen Stuttgart 21 von der Gleisneigungs-Beschränkung für Bahnhöfe ausnimmt. Stuttgart 21 fällt demnach in die Streckenklasse IV-P ("Neue TEN-Strecke des Kernnetzes", Blatt 14 der pdf-Datei / S. L126/66). Für diese Streckenklasse gilt für die Längsneigung (Blatt 18 / S. L126/70, "4.2.4.3. Maximale Längsneigungen"):
- "Die Längsneigung von Gleisen an Fahrgastbahnsteigen darf 2,5 mm/m nicht überschreiten, wenn dort regelmäßig Personenwagen angehängt oder abgekuppelt werden sollen."
Das heißt die 2,5 ‰-Grenze für das Bahnsteiggleisgefälle aus der EBO und aus früheren Entwürfen der TSI-Infrastruktur ist für Stuttgart 21 durch die EU-Richtlinie aufgehoben (die "TSI Infrastruktur" ist eine Spezifikation zu Richtlinie 2008/57/EG vom 17.06.2008[30]), da im neuen Tiefbahnhof zumindest 'in der Regel' keine Waggons umgehängt werden sollen. Es stellt sich die Frage, ob die EU-Richtlinie im Vergleich zum Entwurf nicht eine 'Lex Stuttgart 21' darstellt.
Die Modifizierung der EU-Vorschrift TSI Infrastruktur HGV fand nach dem 28.01.2005 bis Ende 2007 statt. Sie wurde im EU-Amtsblatt vom 19.03.2008 verkündet, war mithin zum Zeitpunkt der Geißlerschen Schlichtung 2 1/2 Jahre später bekannt. Dr. Geißler und auch der Gutachter Dipl.-Ing. Happe, wussten zum Zeitpunkt des 6. Schlichtungstages im November 2010, als der Detailpunkt Bahnsteiggleisneigung aufgerufen wurde, nach eigenem Bekunden hiervon noch nichts. Die Verantwortlichen der DB Netz AG, in ihrer Spitze Dr. Volker Kefer, wussten hiervon sehr wohl, haben hierzu aber geschwiegen, weil die Aufarbeitung dieses Themas in aller Öffentlichkeit allen Beteiligten vor Augen geführt hätte, dass es nirgendwo in der Welt einen Großbahnhof mit einem solch hohen Gefälle gibt.
Die Frage verlagert sich damit wieder darauf, wie die Deutsche Bahn über Betriebsanweisungen oder technische Sicherungen die ggf. im Störungsfall nötigen Anhänge- oder Abkupplungsvorgänge so absichert, dass Gefahren für den Bahnbetrieb ausgeschlossen werden können. Auch stellt sich die Frage, ob allein ein gewähltes Betriebsprogramm für die Einordnung gemäß der TSI hinreicht.
Chronologie
29.09.2015 | Die Klage gegen das Eisenbahnbundesamt wird aus formalen Grünen zurückgezogen, der Vorwurf besteht weiter.[31] |
28.07.2015 | Express: "Acht Verletzte seit 2010. Immer mehr Geisterzüge am Kölner Hbf!"[2] |
15.07.2015 | Die Bundesregierung gesteht 22 Wegrollvorgänge in Köln, überwiegend bei niedriger Gleisneigung ein.[3][32] |
13.02.2015 | Bundesregierung antwortet Matthias Gastel unvollständig: 17 Wegrollvorgänge in Köln seit 2010, mit nur rudimentären Daten.[5] |
10.01.2015 | Spiegel, "Kunststück am Hang": "... Was in Köln nur zu launigen Internetkommentaren führt, hat in Stuttgart dann andere Folgen: Ein Zug mit offenen Türen rollt annähernd im Mopedtempo aus dem Bahnhof. ..."[10] |
05.11.2014 | Sven Andersen beantragt bei dem Chef des Eisenbahn-Bundesamts Gerald Hörster die Aufhebung des Planfeststellungsbeschlusses zu PFA 1.1 aufgrund der Gefährdung durch die überhöhte Gleisneigung. |
20.06.2013 | Express: 13 Wegrollvorgänge in Köln seit 2009.[33] |
18.06.2013 | Frontal21 berichtet über den "Bahnhof in Schieflage, Sicherheitsrisiken bei Stuttgart 21" mit der Kritik des früheren Chefs der Hamburger Zugförderung Eberhard Happe und des Lokführers Thilo Böhmer. Trotz der realen Gefahr für Leib und Leben der Fahrgäste, erhielt der Bahnhof dennoch eine formelle Genehmigung. Das Thema wird dennoch nicht in der Öffentlichkeit weiterdiskutiert.[7] |
27.10.2011 | Sven Andersen informiert EU Kommissar Siim Kallas über die [34] |
08.11.2010 | Spiegel, "Schiefe Bahn": "Eberhard Happe: Die Bahnsteiggleisneigung muss als kriminell angesehen werden."[35] |
Dokumente
Relevante Dokumente in umgekehrt chronologischer Reihenfolge im obigen Text in Klammern referenziert, z.B. (Andersen 2011-06).
Andersen 2014 | Dipl.-Ing. Sven Andersen, BDir a.D., "Gutachten über die Beurteilung der überhöhten Gleisneigung beim Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 unter Berücksichtigung der Anforderungen aus der EBO und dem bisherigen Verfahrensablauf", 04.10.2014 (pdf rp.baden-wuerttemberg.de) | |
Andersen 2011‑11 | Sven Andersen, "Das Bahnsteiggleisgefälle im neuen Stuttgarter Tiefbahnhof im Licht der TSI Infrastruktur HGV", Eisenbahn-Revue International 11/2011, S. 564-565 (pdf [http://www.michael-cramer.eu/fileadmin/documents/Artikel/2011-11-10_Bahnsteiggleisgefaelle_im_neuen_Stuttgarter_Tiefbahnhof.pdf michael-cramer.eu) | |
Andersen 2011‑06 | Sven Andersen, "Das Bahnsteiggleisgefälle in Stuttgart 21 im Blick der Vorschriften und der betrieblichen Praxis", Eisenbahn-Revue International 06/2011, S. 310-311 (pdf archiv.kopfbahnhof-21.de | |
Happe 2010‑12 | Eberhard Happe, Leserbrief zu "Stuttgart 21 – betriebsgefährlich?", Eisenbahn-Revue International 12/2010, S. 645. | |
Andersen 2010‑11 | Sven Andersen, "Stuttgart 21 – wie es dazu kam" (pdf gute Qualität archiv.kopfbahnhof-21.de, pdf mit Kommentar bawue.gruene-fraktion.de) | |
PFB 1.1 | Planfeststellungsbeschluss, "Projekt Stuttgart 21" Planfeststellungsabschnitt 1.1 (Talquerung mit neuem Hauptbahnhof) (Az.: 59160 Pap-PS 21-PFA 1.1 Talquerung), 28.01.2005 (bahnprojekt-stuttgart-ulm.de) | |
Happe 1992 | Eberhard Happe, "Kritisches zur Neubaustrecke Stuttgart-Ulm", Eisenbahn-Kurier 2/1992, S. 28-31 |
Einzelnachweise
- ↑ stuttgarter-zeitung.de, "Ex-Bahner zieht Klage zurück"
- ↑ a b c d 28.07.2015, express.de, "Immer mehr Geisterzüge am Kölner Hbf!"
- ↑ a b c d Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Linken "Aufklärung von Wegrollvorgängen bei der Bahn aufgrund der Gleisneigung in Bahnhöfen"(pdf dipbt.bundestag.de)
- ↑ 21.07.2015, sabine-leidig.de, Pressemitteilung von Sabine Leidig, der verkehrspolitischen Sprecherin der Fraktion Die Linke im Bundestag, "Gleisneigung bei S21: Gefährlich!"
- ↑ a b c d 13.02.2015, Antwort der Bundesregierung auf Fragen Nr. 69 und 70/Februar von Matthias Gastel, dem Verkehrspolitischen Sprecher der Grünen.
- ↑ Dipl.-Ing. Sven Andersen, BDir a.D., "Gutachten über die Beurteilung der überhöhten Gleisneigung beim Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 unter Berücksichtigung der Anforderungen aus der EBO und dem bisherigen Verfahrensablauf", 04.10.2014 (pdf rp-stuttgart.de)
- ↑ a b c 18.06.2013, zdf.de, Frontal21, "Bahnhof in Schieflage" (Video youtube.com)
- ↑ a b 20.11.2010, 6. Tag der Faktenschlichtung, 17:19 Uhr, Dr. Heiner Geißler
- ↑ a b 18.11.2010, Pforzheimer Zeitung, "Ich sehe meine Zukunft im Land" S. 3. (pdf, siehe auch 17.11.2010, pz-news.de)
- ↑ a b 10.01.2015, spiegel.de, "Kunststück am Hang" (Erklärvideo Spiegel online auf youtube.com, facebook.com)
- ↑ 12.2010, "21 Gute Gründe für Stuttgart 21", 4. Auflage, S. 21, (bahnprojekt-stuttgart-ulm.de)
- ↑ a b c 20.11.2010, 6. Tag der Faktenschlichtung, ab 14:20 Uhr, Dr. Volker Kefer
- ↑ Richtlinie 813.0201A02 "Bahnsteige mit erhöhter Längsneigung" (pdf, Blatt 48)
- ↑ wikipedia.org Steilstrecke, Gebirgsbahn
- ↑ Dachverband Integratives Bauen, "Checklisten für die Neuplanung", S. 3 (dipb.org). Der Grenzwert stammt offenbar aus Din 18024-2.
- ↑ 08.11.2010, spiegel.de, "Schiefe Bahn"
- ↑ wikipedia.org Gefälle von Eisenbahnstrecken
- ↑ 20.11.2010, 6. Tag der Faktenschlichtung, Stenografisches Protokoll, S. 187, Rafael Ryssel: Die Signalbremsung greift nur, wenn der Zug in Richtung der Einstellung des Fahrtreglers losrollt.
- ↑ 20.11.2010, 6. Tag der Faktenschlichtung, Stenografisches Protokoll, S. 192, Eberhard Happe
- ↑ 20.11.2010, 6. Tag der Faktenschlichtung, 16:31-16:47 Uhr, Dr. Volker Kefer, Hr. Ryssel, Eberhard Happe
- ↑ 20.11.2010, 6. Tag der Faktenschlichtung, 16:16-16:17 Uhr, Dr. Volker Kefer
- ↑ 20.11.2010, 6. Tag der Faktenschlichtung, 17:11 Uhr, Klaus-Jürgen Bieger
- ↑ 20.11.2010, 6. Tag der Faktenschlichtung, 17:15 Uhr, Dr. Heiner Geißler
- ↑ 20.11.2010, 6. Tag der Faktenschlichtung, 17:10 Uhr, Dr. Volker Kefer
- ↑ 30.11.2010, 9. Tag der Faktenschlichtung, 10:30 Uhr, Dr. Volker Kefer
- ↑ 20.11.2010, 6. Tag der Faktenschlichtung, 17:16 Uhr, Dr. Heiner Geißler
- ↑ Energiesatz: E = ½ mv²
- ↑ 20.11.2010, 6. Tag der Faktenschlichtung, Stenografisches Protokoll, S. 138 ff
- ↑ 14.05.2011, "TSI Infrastruktur" nach Beschluss der Europäischen Kommission vom 26.04.2011: Technische Spezifikation für die Interoperabilität, Teilsystem "Infrastruktur" des konventionellen Eisenbahnsystems (pdf eur-lex.europa.eu)
- ↑ 18.07.2008, Richtlinie 2008/57/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über die Interoperabilität des transeuropäischen Hochgeschwindigkeitsbahnsystems (pdf eur-lex.europa.eu)
- ↑ stuttgarter-zeitung.de, "Ex-Bahner zieht Klage zurück"
- ↑ 21.07.2015, sabine-leidig.de, Pressemitteilung von Sabine Leidig, der verkehrspolitischen Sprecherin der Fraktion Die Linke im Bundestag, "Gleisneigung bei S21: Gefährlich!"
- ↑ 20.06.2013, express.de, "Schienen sind schief. Hauptbahnhof: Zusatzbremsen wegen Gleisgefälle"
- ↑ Dipl.-Ing. Sven Andersen, BDir a.D., "Brief an EU-Kommissar Siim Kallas" (pdf wikireal.org)
- ↑ 08.11.2010, magazin.spiegel.de, "Schiefe Bahn" (online spiegel.de)