Stuttgart 21/Stresstest/Aufruf
Mitte Dezember 2011 hatte die Deutsche Bahn AG und die SMA und Partner AG die von WikiReal vorgebrachte Kritik am Stresstest zu Stuttgart 21 noch nicht nachvollziehbar entkräftet und die Medien wollten nach dem Ausgang der Volksabstimmung über dieses Ausbleiben einer Rechtfertigung nicht berichten. WikiReal initiierte einen Aufruf, der die Bahn und den Auditor veranlassen sollte, inhaltlich zu den Richtlinienverstößen und Fehlern Stellung zu beziehen. (Dabei treffen die Unterzeichner keine Positionierung, wie der Stresstest korrekt hätte durchgeführt werden müssen, sie fordern lediglich Aufklärung der Vorwürfe.)
Inhaltsverzeichnis
Aufruf zur Klärung der Richtlinienverstöße
Die Teilnehmer und Experten aus der Faktenschlichtung, den Prämissengesprächen und der Stresstest-Präsentation zu Stuttgart 21 (überwiegend, aber nicht nur die der Kritikerseite) sowie weitere Verkehrsexperten
Richtlinienverstöße im Stuttgart 21-Stresstest: Aufruf an die Deutsche Bahn AG, die SMA und Partner AG und den Schlichter Dr. Heiner Geißler
Als Teilnehmer und Experten haben wir uns an dem Demokratie-Experiment der Faktenschlichtung und der Stresstest-Präsentation zum Projekt Stuttgart 21 (S21) beteiligt oder dieses Verfahren anderweitig begleitet. Ein strittiger offener Punkt der Faktenschlichtung war die realistische Leistungsfähigkeit des neuen Bahnhofs. Im Schlichterspruch war der "Nachweis" der Leistungsfähigkeit durch den sogenannten "Stresstest" gefordert worden. Bei "guter Betriebsqualität" sollten 49 Züge in der Spitzenstunde abgefertigt werden können. Die Prüfung der Ergebnisse durch den Gutachter, SMA und Partner AG (SMA), aus der Schweiz war verabredet worden.
Ebenso wie Millionen Bürger haben wir als Beteiligte unser Vertrauen in diesen Prozess gesetzt. Auch zum Zeitpunkt der Volksabstimmung ging die große Mehrheit der Wahlberechtigten bei der Stimmabgabe davon aus, dass das Verfahren regelgerecht abgelaufen war. Eine gute Woche vor der Volksabstimmung waren jedoch die Vorwürfe aus der Analyse von Dr. Christoph Engelhardt veröffentlicht worden, einem Experten der Stresstest-Präsentation. Demnach besteht der dringende Verdacht, dass bei der Durchführung des Stresstests vielfach gegen die maßgebliche Konzern-Richtlinie 405 „Fahrwegkapazität“ der DB AG verstoßen wurde. Die Bahn hatte diese Richtlinie als Grundlage der Simulation angegeben. Auf dem neuen Faktencheck-Portal WikiReal.org sind die Stresstest-Fehler in großer Detailtiefe dokumentiert und werden von einer ständig wachsenden Gemeinschaft ergänzt und ausgearbeitet. Eine beträchtliche Zahl von Wissenschaftlern und Bahnfachleuten hat sich der Kritik angeschlossen. Im Folgenden die Chronik der Veröffentlichung:
- 17.11.2011: Veröffentlichung erster Ergebnisse in der Stuttgarter Zeitung (s.a. 18.11.2011). Die Bahn, Auditor SMA und Dr. Heiner Geißler werden umfassend informiert, die jeweiligen Projektleiter zur Mitarbeit an der Klärung der Vorwürfe eingeladen.
- 18.11.2011: Pressekonferenz (Text, Folien, Video) und zahlreiche Veröffentlichungen (z.B. dpa-Meldung, SWR Landesschau). Die Bahn spricht von einem "durchsichtigen und billigen Wahlkampfmanöver", die Kritik "entbehre jeder Grundlage". Ähnlich äußert sich die SMA, verweigert aber weitere Stellungnahmen bis zur Volksabstimmung. Das Eisenbahn-Bundesamt erklärte "die Anwendung der Richtlinie sei Sache der Bahn", die den Stresstest in "eigener Verantwortung konzipierte und durchführte".
- 22.11.2011: Frontal 21 berichtet. Einer der angesehensten Verkehrswissenschaftler Österreichs, Prof. Hermann Knoflacher, bestätigt die Vorwürfe. Bahnchef Dr. Rüdiger Grube bezeichnet die Kritik als "Verschwörungstheorie".
- 24.11.2011: Die Stuttgarter Zeitung veröffentlicht eine sachliche Stellungnahme der Bahn sowie die Entgegnung von Engelhardt, er sieht sich in keinem Punkt widerlegt und richtet im Vorfeld der Volksabstimmung einen Aufruf an alle Abgeordneten des Baden-Württembergischen Landtags. Bahn, SMA und Dr. Geißler werden von WikiReal erneut vergeblich zu einer argumentativen Auseinandersetzung aufgefordert.
- 27.11.2011: Volksabstimmung, die Vorwürfe zum Stresstest sind noch unaufgeklärt.
- 30.11.2011: Die Frage der Linken Bundestagsfraktion an Bundesverkehrsminister Dr. Peter Ramsauer in der Aktuellen Stunde zu S21 ist bis zuletzt noch nicht beantwortet.
Die Vorwürfe wiegen schwer
WikiReal listet eine größere Zahl von Verstößen des Stresstest-Prozesses gegen die Richtlinie auf. Schon ein einzelner dieser Verstöße macht die Stresstest-Dokumentation unzutreffend und damit das Ergebnis wissenschaftlich ungültig. WikiReal schätzt ab, dass bei Korrektur der Fehler in der Simulation nur rund 32 Züge, nahe Überlast maximal 38 Züge pro Stunde im neuen Bahnhof darstellbar sind. Im Unterschied dazu wurde zuletzt eine Kapazität des heutigen Kopfbahnhofs von 50 Zügen nach geringfügigen Ausbauten amtlich bestätigt. Diese Reduktion der Leistungsfähigkeit durch die Milliarden-Investition in Stuttgart 21 ist nicht vermittelbar, das Projekt beraubt sich seiner Rechtfertigung im Planfeststellungsverfahren.
WikiReal argumentiert nachvollziehbar, dass der Auditor SMA einige der Regelverstöße übersah oder nicht konsequent verfolgte. In ihrer Stellungnahme gebraucht die DB AG Formulierungen, die offenbar schon in der Hälfte der Fälle ein Abweichen vom Regelwerk einräumen, in den anderen Fällen ist der Regelverstoß nach wie vor nicht entkräftet.
Die Unterzeichner dieses Aufrufs sind überzeugt, dass es ureigenstes Interesse der DB AG und SMA sein muss, dass die begründeten Vorwürfe bezüglich der Regelverstöße und möglicher Lücken in der Auditierung durch die SMA nachvollziehbar ausgeräumt werden. Wir rufen dazu auf. Der Nachweis der Leistungsfähigkeit des neuen Durchgangsbahnhofs Stuttgart 21 darf keinem Zweifel unterliegen. Andernfalls fehlt dem Fortschritt des Baus die Legitimation.
Zur Plausibilisierung der realistischen Leistungsfähigkeit könnte auch die öffentliche Dokumentation und Diskussion der Ergebnisse der DB-Simulationen vom August 2010 beitragen. [Hierzu erreichte uns inzwischen die Information, dass die damaligen Simulationen primär die S-Bahn betrafen, immerhin war die Infrastruktur von Stuttgart 21 schon weitgehend in das Simulationssystem eingegeben.]
Die Kritik in 10 Punkten
Die Bahn griff in ihrer Stellungnahme 8 Kritikpunkte auf und zog in Punkt 9 ein Fazit. Als Punkt 10 wird hier noch die wichtige Frage der Aussagekraft von Sensitivitätsbetrachtungen aufgeführt. Die Argumentation von WikiReal findet sich in dem Text der Entgegnung und ausführlich auf WikiReal.org.
- Umdefinition der Betriebsqualität. Die Bahn hatte die Zielsetzung schon einseitig um eine Stufe von der "guten Betriebsqualität" auf nur noch "wirtschaftlich optimal" reduziert. Darüber hinaus werden durch falsch zugeordnete Grenzwerte Verspätungen bis 1 Minute noch der "wirtschaftlich optimalen" Betriebsqualität zugeordnet, dabei müsste hier "risikobehaftet" erteilt werden. Indem die Bahn mit einem "wirtschaftlich optimalen" Leistungsbereich argumentiert, der auch die "risikobehaftete" Qualität umfasst und bei einer Minute endet, räumt sie den Verstoß ein. Ein substanzieller Verspätungsaufbau in den Zu- und Abläufen, wie in der Simulation und den "Sensitivitäten" dargestellt, ist nicht mehr "wirtschaftlich optimal". Im Gegensatz zur Aussage der Bahn baut gerade die neue Infrastruktur etwa in den Zuläufen gravierend Verspätungen auf, während die Bestandstruktur im Mittel Verspätungen abbaut.
- Gekappte Streckenauswertungen. Die Bahn räumt ein, die Strecken jeweils nur so weit ausgewertet zu haben, wie das gewünschte Prädikat "wirtschaftlich optimal" erreicht wird. Dabei wird etwa in der Gegenrichtung willkürlich anders gemessen, wenn es nützlich ist. Die Richtlinie erlaubt aber nicht, von den Messpunkten abzuweichen. Der Öffentlichkeit wurden so "wirtschaftlich optimale" Strecken präsentiert, wo "mangelhaft" hätte ausgewertet werden müssen.
- Unrealistische Lastkurve. Die Bahn argumentiert unter Beschränkung auf die Ankünfte, die heutige Lastkurve korrekt abzubilden. Die Ankünfte unterschlagen jedoch die am Morgen im heutigen Bahnhof eingesetzten Züge. Die Leistungsmessung mit sämtlichen Zügen war jedoch in der Schlichtung vereinbart worden und war Grundlage des Schlichtspruchs zum Stresstest. Die Bahn nimmt vor und nach der Spitzenstunde 24 Züge aus der Simulation. Bei realistischer Modellierung würden bei gleicher Betriebsqualität in der Spitzenstunde nur rund 6 Züge weniger fahren können.
- Fehlen von Belegungsgraden und weiteren Kenngrößen. Die Richtlinie fordert, dass bei Leistungsuntersuchungen nicht nur allein die Verspätungsveränderung betrachtet werden darf und schreibt insbesondere die Darstellung der Belegungsgrade vor. Indem die Bahn argumentiert, dass sie bei früheren Untersuchungen diese Größen ausgewiesen hätte, räumt sie ein, dies im Stresstest unterlassen zu haben. Erste Abschätzungen ergeben, dass diese Kenngrößen deutliche Warnzeichen für eine Überlastung der neuen Infrastruktur geben würden.
- Gekappte Verspätungen. In der Stresstest-Präsentation war argumentiert worden, die zufälligen Verspätungswerte würden Stress und Störungen abbilden. Tatsächlich wurden durch einen versteckten Parameter entgegen der Richtlinie genau die hierfür wesentlichen Spitzen der Verspätungen gekappt. In der Stellungnahme gibt die Bahn an, "größere Störungen" "unberücksichtigt" gelassen zu haben und spricht davon, das Verspätungsniveau lediglich "gut" abgebildet zu haben. Indem außerdem die Kappung nicht dementiert wird, erscheint der Regelverstoß eingeräumt. Im Folgepunkt bewirken optimistische Verspätungen eine Schönwettersimulation, die zusätzliche Kappung der Spitzen macht daraus eine praxisferne Schönstwettersimulation.
- Optimistische Verspätungsniveaus. Die Bahn setzte im Fernverkehr und bei den S-Bahnen bei den sogenannten Einbruchsverspätungen Pünktlichkeitsgrade von rund 95 % an, wo offiziell nur Durchschnittswerte um die 84 % veröffentlicht worden waren. Sie behauptet, dies entspräche der Realität und beruft sich auf intransparente Daten, die den veröffentlichten Werten widersprechen. Die enormen Pünktlichkeitswerte können somit nicht nachvollzogen werden.
- Simulation nur im Vergleich mit Varianten aussagefähig. Die Richtlinie schreibt unabhängig von der Aufgabenstellung für Leistungsuntersuchungen die Betrachtung von Varianten vor. Hintergrund ist die Gefahr, dass zu viele optimistische Annahmen ein vollkommen verfälschtes Ergebnis bewirken können. Es verfängt deshalb nicht, wenn die Bahn argumentiert, keinen Auftrag zum Vergleich etwa mit dem Kopfbahnhof erhalten zu haben.
- Nutzung von 100 % der Fahrzeitüberschüsse. Die Bahn hat sämtliche Reservezeiten zum Verspätungsabbau genutzt, die Richtlinie erlaubt dies aber nur "zum Teil". Insbesondere der sogenannte Bauzuschlag, ein Erfahrungswert für typische Verzögerungen aufgrund von Baugeschehen oder Wartung darf laut Richtlinie nur zu 50 % verwendet werden. Die Bahn "bezweifelt" diesen Verstoß lediglich und argumentiert ausweichend, einen anderen Zuschlag, den sogenannten Regelzuschlag nicht zum Verspätungsabbau genutzt zu haben. Dies lässt die Richtlinie aber auch nicht zu. Korrigiert wurde dieser Fehler nur testweise in der entsprechenden "Sensitivität" (75 % Fahrzeitüberschüsse), die zu einem erheblichen Verspätungsaufbau führte und die dramatische Bedeutung dieses Fehlers zeigt. Völlig unverständlich wurde diese Korrektur bei nachfolgenden Simulationen nicht mehr weiter verfolgt.
- Manipulationsvorwurf. In diesem Punkt zieht die Bahn ein Fazit und behält sich rechtliche Schritte vor. WikiReal würde die gerichtliche Überprüfung der Einhaltung der Vorgaben der Richtlinie im Stresstest begrüßen.
- Sensitivitäten sind nicht zulässig und ohne Beweiskraft. Zu diesem wesentlichen Punkt hat die Bahn nicht Stellung bezogen. Die sogenannten Sensitivitäten sind stichprobenartige Tests, mit lediglich 1 bis 3 Simulationsläufen, die nach der Richtlinie nicht zulässig sind. Außerdem wird lediglich die Reaktion des Systems darauf getestet, dass ein einzelner Parameter realistischer eingestellt wird. Vorgeschrieben sind 100 Simulationsläufe, d.h. 100 simulierte echte Betriebstage, unter Berücksichtigung sämtlicher Parameter mit Werten, deren Realitätsnähe einzeln geprüft ist und die der Aufgabenstellung entsprechen. Die Bahn jedoch stellt immer nur einzelne Belastungen auf ein realistisches Niveau, um bei weiteren Simulationsläufen diesen Wert wieder auf optimistisch zu stellen. Auch der nachträglich in der Stresstest-Präsentation vereinbarte "Finale Simulationslauf" ist eine solche Sensitivität und somit völlig ohne Beweiskraft.
Weitere gravierende Kritikpunkte, insbesondere auch an der Arbeit des Auditors SMA finden sich auf WikiReal.org.
Wir sind der Überzeugung, dass ein Verfahren zur Befriedung eines kontrovers diskutierten Projekts sich keine solch gravierenden Indizien für eine mögliche Täuschung der Öffentlichkeit leisten kann. Es muss ein Gebot der Wissenschaftlichkeit sein, dass eine Ergebnisdokumen¬ta¬tion, die demokratische Entscheidungen rechtfertigen soll, fachlich nachvollziehbar und über jeglichen Zweifel erhaben ist. Andernfalls würde Dr. Rüdiger Grubes Befürchtung von Verschwörungstheorien Vorschub geleistet, und es bestünde die Gefahr, dem exzellenten Ruf des Wissenschafts- und Industriestandorts Deutschland Schaden zuzufügen. Es gilt zu vermeiden, dass an der deutschen Bahnwissenschaft ein Makel haften bleibt.
Unterzeichner
Die Unterzeichner unterzeichnen in der Rolle und Funktion, die sie zur Zeit ihrer Beteiligung an dem Verfahren hatten. Wenn Teilnehmer im Unterschied zur Faktenschlichtung in der Stresstest-Präsentation in anderer Funktion auftraten, wird hier die letzte Rolle angegeben. V.i.S.d.P. Dr. Christoph Engelhardt, 85748 Garching
Teilnehmer und Experten der Kritikerseite
Conradi, Peter – Architekt
Engelhardt, Dr. Christoph – Analyst
Happe, Eberhard – ehem. Leiter Zugförderung Hamburg
Hesse, Prof. Wolfgang – Universität Marburg, München
Heydemann, Hans – Ingenieure 22
Hopfenzitz, Egon – ehem. Vorsteher Hbf Stuttgart
Morlock, Roland – Physiker, Ingenieure 22
Nitsch, Dr. Joachim – Energiewissenschaftler
Rockenbauch, Hannes – Stadtrat SÖS-Stadtratsfraktion Stuttgart, Sprecher Aktionsbündnis gegen S21
Rößler, Karlheinz – Vieregg-Rößler GmbH
Sierig, Dr. Jakob – Geothermiekontor GmbH
Wößner, Klaus – Ingenieure 22
Teilnehmer und Experten von anderer Seite
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Weitere Verkehrsexperten
Andersen, Sven – Bundesbahndirektor a.D.
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Andere
Wenn nicht anders bezeichnet aus Stuttgart:
Jakubeit, Wolfgang – Bauingenieur
Kuebart, Wolfgang – Diplomphysiker, Ingenieure 22
Küster-Sartori, Brigitta – Oberstudienrätin
Mayer, Prof. Susanne – Hochschule der Medien Stuttgart
Sittler, Walter – Schauspieler
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