Stuttgart 21/Personenzugänge
Ergebnis
Stuttgart 21 ist auch für die Fußgänger deutlich unterdimensioniert. In den Spitzenstunden wird gefährliches Gedrängel herrschen. Die Deutsche Bahn AG leistet sich zum Thema massive Unaufrichtigkeiten. Für die Personenstromanalysen hat sie die Anforderungen unzulässig gesenkt. Der Brandschutz ist kritisch, die rechtzeitige Entfluchtung der Menschen ist nicht sichergestellt.
Aktuell
11.03.2014 | Die Personenstromanalyse der PTV macht Wirbel. Die Rechnungen zum Kopfbahnhof wie auch die Bewertung des Tiefbahnhofs sind jedoch methodisch und im Ergebnis falsch. |
19.02.2014 | Seit einem Jahr hat die Bahn den Vorwürfen zur Täuschung des Gemeinderats nichts entgegenzusetzen (St.Z. 19.02.14, Kommentar, siehe dazu St.Z. 03.01.2013). |
Inhaltsverzeichnis
- 1 Ergebnis
- 2 Aktuell
- 3 Zusammenfassung
- 3.1 Unterdimensionierung von Stuttgart 21 für die Fußgänger
- 3.2 Glaubwürdigkeit der Deutschen Bahn
- 3.3 Gesenkte Hürden in der Personenstromanalyse von Durth-Roos
- 3.4 Zu wenig Personen in der Entfluchtung
- 3.5 Fehler in der Personenstromanalyse von PTV
- 3.6 Chronologie der öffentlichen Diskussion zur S21-Fußgängerqualität
- 3.7 Zusammenfassende Dokumente
- 4 Einzelnachweise
Zusammenfassung
Unterdimensionierung von Stuttgart 21 für die Fußgänger
Stuttgart 21 ist auch in den Fußgängeranlagen unterdimensioniert. Weder die Reisenden aus 49 Zügen pro Stunde wie im Stresstest noch die aus 32 Zügen würden in den Spitzenstunden auch nur die Minimalqualität des Bewegungskomforts vorfinden. Für Stuttgart 21 wird nicht der zugesagte "hohe Komfort" mit einer "internationalen Vorbildfunktion" erreicht, vielmehr wird gefährliches Gedrängel im Bahnhof zu den Hauptverkehrszeiten herrschen.
Glaubwürdigkeit der Deutschen Bahn
→ Hauptartikel: Personenzugänge/Glaubwürdigkeit
Die Deutsche Bahn hatte sich schon im Prozess der Planung der Fußgängeranlagen große Unaufrichtigkeiten geleistet:
- Auslegung der Anlagen schon 1998 auf nur 32 Züge pro Stunde und somit auf weniger Leistung als dem damaligen Bedarf entsprach, weit unter dem zugesagten Verkehrswachstum.
- Die Zusage von beispielhaftem Komfort obwohl nur Minimalanforderungen geplant wurden.
- Der Ansatz von Mindesbreiten ohne Berücksichtigung des hohen Verkehrsaufkommens.
- Das Verbergen dieser Umstände in der Planfeststellung 2005 und vor der Öffentlichkeit.
- Auch in der Faktenschlichtung 2010 wurde die Öffentlichkeit entgegen besseren Wissens über eine vermeintlich unproblematische Situation für die Fußgänger getäuscht.
- Besonders umfassend sind aber die Falschaussagen zu den Personenstrom-Ergebnissen in den Darstellungen vor dem Stuttgarter Gemeinderat am 24.07.2012. Hierbei wurde ein Finanzierungspartner des Projekts über wesentliche Aspekte des Projekts falsch informiert. Für die Bemessung von Treppen und Durchgängen im Tiefbahnhof waren die Anforderungen unzulässig gesenkt worden (Folgeabschnitt). Dennoch verblieben sehr viele kritische Engpässe im Bahnhof (siehe Abbildung rechts), die jedoch von der Bahn vor dem Gemeinderat nicht dargestellt worden waren.
Gesenkte Hürden in der Personenstromanalyse von Durth-Roos
→ Hauptartikel: Personenzugänge/Durth Roos
Zur "Dimensionierung" der Fußgängeranlagen hatte die Firma Durth-Roos für die Deutsche Bahn AG 2009 und 2012 Personenstromanalysen durchgeführt. Diesen Studien waren von der Bahn zu günstig gewählte Eingangsparameter vorgegeben worden. Dennoch zeigten sich zahllose kritische Engpässe für die Fußgänger im Bahnhofsgebäude.
- Für Stuttgart 21 sind entsprechend dem geplanten Wachstum die Reisenden aus rund 50 Zügen pro Stunde als Belastung zu erwarten. Aber für die Fußgängeranlagen wurden lediglich die Reisenden aus 32 Zügen pro Stunde angenommen – dies entspricht den 32 zügen, die schon der Auslegung der Gleisanlagen zugrunde gelegt wurden. Heute wie damals fahren bzw. fuhren dagegen rund 38 Züge in der morgendlichen Spitzenstunde.
- In den Simulationen wurden keine Doppelbelegungen mit ihrer höheren Belastung der Bahnsteige berücksichtigt, obwohl diese Doppelbelegungen schon bei den Betriebsprogrammen mit 32 Zügen vorgesehen sind.
- Auch die Umsteiger von der S-Bahn wurden in der Simulation unrealistisch auf große Umwege gelenkt, damit sie die größten Engpässe im Bahnhof vermeiden.
- Entsprechend einem in der Öffentlichkeit zugesagten "hohen Bewegungskomfort" mit "internationaler Vorbildfunktion" wurde für Stuttgart 21 Qualitätsstufe C vorgegeben, dann aber im Stillen auf Qualitätsstufe D gesenkt.
- Die Bahnsteigräumzeit wurde gegenüber den von der Richtlinie vorgegebenen 2,5 Minuten auf nicht zulässige 4 Minuten angehoben. Damit werden 60 % mehr Reisende auf den Bahnsteigen akzeptiert
Insgesamt wurden die Personenstromanalysen gegenüber den Zusagen um einen Faktor 3-4 zu günstig simuliert. Gegenüber den Minimalanforderungen verbleibt etwa ein Faktor 2. Und dennoch werden zahlreiche Engpässe für die Fußgänger sichtbar, die jedoch in den Darstellungen der Bahn ausgeblendet worden waren (Abbildung oben). Der Kapazitätsrückbau fällt somit bei den Fußgängeranlagen noch deutlicher aus als der deutliche Rückbau der Zugleistung auf nur noch 32 Züge pro Stunde.
Zu wenig Personen in der Entfluchtung
→ Hauptartikel: Personenzugänge/Entfluchtung
Auch für die Entfluchtung der Bahnsteige im Katastrophenfall wurden nicht so viele Reisende angenommen, wie aufgrund der geplanten Betriebsprogramme und der Bemessungsgrundsätze im Brandschutz-Leitfaden des Eisenbahn-Bundesamts zu erwarten sind. So wurden nur 4.041 zu entfluchtende Personen pro Bahnsteig angenommen. Bei den geplanten Doppelbelegungen können aber über 6.000 Personen pro Bahnsteig zu entfluchten sein. Die zuletzt ermittelte Entfluchtungszeit von 23 Minuten war schon viel zu hoch. Sie müsste somit für den höchstbelasteten Bahnsteig um rund 50 % erhöht werden.
Fehler in der Personenstromanalyse von PTV
→ Hauptartikel: Personenzugänge/PTV
Im März 2014 wurde eine Personenstromanalyse der Firma PTV öffentlich. Sie war Dez. 2012 vom Verkehrsministerium Baden-Württemberg beauftragt worden, um die frühere Arbeit von Durth-Roos zu überprüfen und die Qualität für die Fußgänger im Kopfbahnhof vergleichbar zu bewerten. Die beiden zentralen Aussagen des "Schlussberichts" vom 17.12.2013 sind eine Bestätigung der Ergebnisse für den Tiefbahnhof und seiner Überlegenheit gegenüber dem Kopfbahnhof. Beide Aussagen wurden auf sachlich falscher Basis und im Ergebnis unzutreffend getroffen.
- PTV kommt zu dem Schluss, die Ergebnisse der früheren Personenstromanalysen für den Tiefbahnhof seien auf der sicheren Seite, das trifft jedoch nicht zu. Diese Aussage wäre nur möglich, wenn die Eingangsparameter geprüft worden wären. Die unzulässig um von 2,5 auf 4 Minuten verlängerte Bahnsteigräumzeit und die lediglich 32 statt 49 Züge pro Stunde wurden jedoch nicht hinterfragt. Sie bewirken aber eine erhebliche und unzulässige Absenkung der Anforderungen. Somit sind die Ergebnisse eben nicht auf der sicheren Seite.
- PTV hat die Bewegungsqualität für die Fußgänger im Kopfbahnhof mit einer punktuellen Belastung am Bahnsteigende falsch berechnet. Die Aussteiger sind in der Realität auf die Länge des Zuges verteilt und strömen gleichmäßig zum Bahnsteigende. Vom Zugende eines langen Zuges sind zwar rund 5 Minuten zu laufen, was aber keinen schlechteren Bewegungskomfort bedeutet. Bei höherer Belastung aus längeren Zügen ergibt sich somit keine verschlechterte Qualität. Für die Rechnung im Gutachten hätten die Reisenden mit ihrem Gepäck vom Zugende zum Bahnsteigende rennen müssen, nur um dort noch am Engpass anstehen zu können. Im Tiefbahnhof jedoch stehen die Aussteiger ganz zwangsläufig lange an den verschiedenen Treppen an, bis sie vom Bahnsteig herunterkommen.
- Darüber hinaus sind noch weitere Punkte in dem PTV-Gutachten zu kritisieren: Für Stuttgart 21 wurden die neuen Fluchttreppenhäuser nicht berücksichtigt, die Daten der Reisendenzählung von 2009 sind vollkommen undokumentiert und erscheinen unplausibel, mögliche Ausbauten im Kopfbahnhof blieben unberücksichtigt, wie auch die doppelt so hohe Gleiszahl im Kopfbahnhof, die die Zugfrequenz halbiert und das anderthalb mal so hohe Flächenangebot auf den Bahnsteigen, das die mittlere Belastung reduziert.
Chronologie der öffentlichen Diskussion zur S21-Fußgängerqualität
→ Hauptartikel: Personenzugänge/Chronologie
Die Personenstrom- und Entfluchtungsanalysen zu Stuttgart 21 wurden von der Deutschen Bahn AG nicht öffentlich gemacht. Dies geschah auch nicht in der Faktenschlichtung, als das Thema der Engpässe neben den Rolltreppen angesprochen worden war und die Bahn ausdrücklich mit der Personenstromanalyse argumentiert hatte. Der gesamte Prozess der Bahn zur Dimensionierung von Stuttgart 21 ist durchzogen von zahlreichen großen Unaufrichtigkeiten.
Erst in 2012 wurden die Gutachten der Firma Durth-Roos bekannt und lösten eine Diskussion aus, die in der Rechtfertigung der Deutschen Bahn AG vor dem Stuttgarter Gemeinderat am 24.07.2012 gipfelte. Hier stellte sie die Situation für die Personenströme als unkritisch dar. Diese Darstellung war in vielen Punkten unrichtig und unvollständig. Als im Februar 2013 in einer Studie die tatsächliche Unterdimensionierung der Fußgängeranlagen von Stuttgart 21 nachgewiesen wurde, wie auch der Vorwurf im Detail belegt wurde, die Bahn den Stuttgarter Gemeinderat massiv getäuscht, bezeichnete die Bahn dies als "haltlos" und kündigte an, die Analyse "detailliert prüfen" zu wollen. – Bis heute liegt kein Ergebnis dieser Prüfung vor.
Der Nachweis gegenüber dem Stuttgarter Gemeinderat, dass mit ihm ein Finanzierungspartner von der Bahn in wesentlichen Eigenschaften des Projekts massiv getäuscht worden war, und somit die Geschäftsgrundlage im Zweifel steht, löste bei den Mehrheitsfraktionen keinen Handlungssbedarf aus.
Als die Kritik an der Entfluchtungssimulation formuliert wurde, leitete der Stuttgarter Gemeinderat immerhin eine Diskussion zum Thema über die Branddirektion ein. Diese wurde jedoch jäh durch die Bahn beendet, als diese mit den offenen Fragen konfrontiert wurde.
Anfang 2014 wurde dann die für das Landesverkehrsministerium (MVI) erstellte Personenstromanalyse der Firma PTV bekannt. Sie führte zu heftigen politischen Vorwürfen gegenüber dem MVI, eine Studie mit einem ihr nicht genehmen Ergebnis zurückzuhalten. Tatsächlich sind aber die vermeintlich günstigen Aussagen des Gutachtens fehlerhaft und unzutreffend (siehe oben).
Zusammenfassende Dokumente
Zum Einstieg wird auf folgende zusammenfassende Dokumente zum Download verwiesen (Rechtsklick > Speichern unter):
27.02.2013 | Stellungnahme (1,2 MB, 49 Seiten), Gutachterliche Stellungnahme von C. Engelhardt zu den Personenstromanalysen (Zusammenfassung auf den ersten 5 Seiten) |
28.02.2013 | Foliensatz (1,1 MB, 18 Seiten), Foliensatz der Pressekonferenz der Fraktion SÖS und LINKE im Stuttgarter Gemeinderat |
03.12.2013 | Eingabe (237 kB, 8 Seiten), Eingabe an den Stuttgarter Gemeinderat zur S21-Entfluchtung |
Einzelnachweise
- ↑ 09.2009, Durth Roos Consulting GmbH, "Stuttgart 21 – Hauptbahnhof, Personenstromanalyse (Endzustand)" (pdf cams21.de). Die Anlagen sind noch nicht öffentlich einsehbar.
- ↑ 08.02.2012, Durth Roos Consulting GmbH, „Stuttgart 21 – Hauptbahnhof, Personenstromanalyse (Endzustand); Detailbetrachtungen“
- ↑ 24.07.2012, Sven Hantel, Regionalleiter Südwest, "24.07.2012 UTA Stuttgart 21", Foliensatz zur Präsentation im Stuttgarter Gemeinderat am 24.07.2012 (pdf).